Migration

Alle StudienteilnehmerInnen wurden im bzw. um das Jahr 1973 in den Bezirken Leipzig oder Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) der DDR geboren und wuchsen bis zur Wiedervereinigung dort auf. Unter „Migration“ verstehen wir den Umzug der TeilnehmerInnen der Sächsischen Längsschnittstudie von den neuen Bundesländern in die alten Länder oder ins Ausland.

Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 verließen vor allem junge und gut ausgebildete DDR-BürgerInnen ihr Land Richtung Bundesrepublik. 1961 wurde in der DDR die Mauer gebaut und die Grenze, um die Abwanderung von DDR-BürgerInnen in die damalige Bundesrepublik zu stoppen. Dennoch verließen weiterhin jedes Jahr Hundertausende Menschen die DDR auf der Flucht vor dem sozialistischen Regime oder auf der Suche nach einem besseren Leben. Im Sommer 1989 nutzten sehr viele DDR-BürgerInnen den Weg über die offene Grenze von Ungarn nach Österreich, um in den Westen zu gelangen. Viele flüchteten sich auch in die Botschaften der Bundesrepublik, z. B. in der tschechischen Hauptstadt Prag.

Aber auch nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 haben Jahr für Jahr zahlreiche Ostdeutsche ihre Heimat in Richtung alte Bundesländern verlassen, häufig auf der Suche nach Arbeit. Die Bevölkerung Ostdeutschlands ist daher stetig weiter geschrumpft (vgl. z. B. Spiegel-Artikel).

Deshalb spielt das Thema „Migration“ auch in der Sächsischen Längsschnittstudie eine wichtige Rolle.

Abbildung: Wegzug aus den neuen Bundesländern 1995 – 2018, (c) (r) Prof. Dr. Hendrik Berth, Sächsische Längsschnittstudie

Bereits 1996, die TeilnehmerInnen waren zu diesem Zeitpunkt etwa 23 Jahre alt, waren 13 % aus ihrer Heimat in die alten Bundesländern oder ins Ausland weggezogen. Kurz nach der Jahrtausendwende pegelte sich der Anteil der Umgezogenen bei etwa 24 % ein und ist seitdem weggehend stabil. Dabei ist es durchaus möglich, dass Personen eine Zeit lang im Westen/Ausland lebten und wieder zurückgekehrt sind.

In der Sächsischen Längsschnittstudie sind es prozentual etwa gleich viele Männer und Frauen, die umzogen sind. Die ist im Gesamttrend der neuen Länder anders, wo eher die jungen Frauen gehen und die Männer zurückbleiben. Als Migrationsursache wurden auch hier häufig die Arbeitslosigkeiterfahrungen und die schlechten beruflichen Aussichten benannt.

Abbildung: Lebensziele und Migrationsabsicht 1991, (c) (r) Prof. Dr. Hendrik Berth, Sächsische Längsschnittstudie

Schon im Jahr 1991, die TeilnehmerInnen waren zu diesem Zeitpunkt etwa 18 Jahre alt, wurde erfragt, wer einen Umzug in die alten Länder in Erwägung zieht (Migrationsabsicht). Setzt man die Migrationsabsicht mit einigen Lebenszielen in Beziehung, so zeigt sich, dass Personen mit Migrationsabsicht eher materielle Lebensziele wie „viel Geld verdienen“ haben als TeilnehmerInnen ohne Migrationsabsicht.

Abbildung: Zufriedenheit mit dem Einkommen nach Wohnort 1996 – 2012, (c) (r) Prof. Dr. Hendrik Berth, Sächsische Längsschnittstudie

Die Analysen zu den Folgen einer Migration zeigen: Der Umzug von Ost und nach West wirkt sich meist sehr positiv aus. Die Zufriedenheit mit dem Einkommen ist, genau wie das tatsächliche Einkommen, höher. Aber auch in vielen anderen Bereichen, etwa mit dem politischen oder wirtschaftlichen System, sind die „Weggezogenen“ zufrieden. Sie sind an ihren neuem Wohnort (meist) beruflich und privat gut integriert, es bestehen kaum Rückkehrabsichten.

Abbildung: Psychische Belastung nach Wohnort 1996 – 2018, (c) (r) Prof. Dr. Hendrik Berth, Sächsische Längsschnittstudie

Die allgemeine psychische Belastung wurde mit dem sogenannten „Distress-Score“ (D-Score) gemessen. Hierzu liegen in der Sächsischen Längsschnittstudie Daten seit Mitte der 1990er Jahre vor. Der D-Score enthält 4 Fragen, wie z. B. „Ich fühle mich oft niedergeschlagen und mutlos.“ Die zustimmenden Antworten werden aufsummiert, ein höherer Wert steht für eine höhere psychische Belastung. Wie die Abbildung zeigt, ist in fast allen dargestellten Erhebungswellen die psychische Belastung bei den Personen mit Wohnort Ostdeutschland höher. Oder anders herum formuliert: Personen, die in den Westen umgezogen sind, sind entspannter und weniger gestresst.

Quellen

Berth, H., Förster, P. & Brähler, E. (2004). Psychosoziale Folgen einer Migration aus den neuen in die alten Bundesländer. Ergebnisse einer Längsschnittstudie. psychosozial, 26, 81-95.
Berth, H., Förster, P., Brähler, E. & Stöbel-Richter, Y. (2007). Go West! Migration in die alten Länder, ihre Ursachen und Folgen. In H. Berth, P. Förster, E. Brähler & Y. Stöbel-Richter (Hrsg.), Einheitslust und Einheitsfrust. Junge Ostdeutsche auf dem Weg vom DDR- zum Bundesbürger. Eine sozialwissenschaftliche Langzeitstudie von 1987-2006 (S. 177-198). Gießen: Psychosozial-Verlag.
Berth, H., Förster, P., Brähler, E., Zenger, M., Zimmermann, A. & Stöbel-Richter, Y. (2014). Innerdeutsche Migration und seelische Gesundheit. Ergebnisse aus der Sächsischen Längsschnittstudie. In E. Brähler & W. Wagner (Hrsg.), Kein Ende mit der Wende? Perspektiven aus Ost und West (S. 89-101). Gießen: Psychosozial-Verlag.
Kasinger, C., Brähler, E., Heller, A., Stöbel-Richter, Y., Zenger, M. & Berth, H. (2021). Binnenmigration und psychische Gesundheit in der Sächsischen Längsschnittstudie – Relevante Faktoren 20 und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, doi 10.1055/a-1662-5395.
Schmalbach, B., Schmalbach, I., Kasinger, C., Petrowski, K., Brähler, E., Zenger, M., Stöbel-Richter, Y., Richter, E.P. & Berth, H. (2021). Psychological and socio-economical determinants of health: The case of inner German migration. Frontiers in Public Health 9:691680, doi: 10.3389/fpubh.2021.691680